Der Schweizer Vorlesetag ist eine grossartige Chance, positive Begegnungen zwischen den Generationen zu ermöglichen. Ziel einer generationenverbindenden Vorleseaktion ist es, dass jüngere und ältere Menschen Freude am gemeinsamen Erleben von Geschichten haben.
Für das Schwerpunktthema zum Vorlesetag 2024 arbeitet das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM mit der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft SGG zusammen.
Die SGG betreibt seit 2010 das Programm «Intergeneration» zur Förderung der Beziehungen zwischen den Generationen.
Die Freude am Vorlesen und Geschichtenerzählen lässt sich wunderbar über die Generationen hinweg teilen. Das gemeinsame Erleben von Geschichten aller Art stellt für alle eine grosse Bereicherung dar.
Ältere Menschen kennen und erzählen ganz andere Geschichten, Verse und Reime als jüngere Personen. Kinder und Jugendliche erfahren durch eine solche Veranstaltung neue Personen als Vorlesende und erhalten neue Eindrücke, auf welche Art und Weise vorgelesen wird, und lernen andere Geschichten kennen. Die Gespräche mit jüngeren Menschen können wiederum einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden von älteren Menschen haben.
Wir haben für Sie eine kleine Auswahl von Büchern zusammengestellt, die thematisch zu generationenverbindenden Vorleseaktionen passen und sich zum Vorlesen eignen. Die Altersangaben sind dabei nur eine Orientierungshilfe.
Sie sind auf der Suche nach weiteren Büchern, die sich für den Generationenaustausch eignen? Im Diskussionsbeitrag auf der Plattform von Intergeneration "Mit Kinderbüchern Generationen verbinden" entdecken Sie viele weitere Buchempfehlungen zum Thema.
Thienemann 2021
32 S.
Ein besonderer Ausflugstag lockt. Opa und Enkel wollen gemeinsam wandern. Auf dem Cover zieht es die beiden schon magisch an: das Gipfelkreuz. Die beiden sind dabei auf Augenhöhe – dank eines grossen Steins, auf den Jon geklettert ist. Sein Opa hält ihn liebevoll an der Hand. So ist auch die Beziehung zwischen den beiden: vertraut, lebendig, offen.
Daniel Fehr wollte schon lange die Geschichte seines Grossvaters erzählen. Eine Geschichte, in der Jung und Alt an ihre Grenzen kommen, und zwar früh los gehen, aber das gewünschte Ziel trotzdem nicht erreichen. Der Ausflugstag endet mit einem Griff in die Fotokiste – mit Beweisen, dass Opa damals auf dem Berg war. Stark sind die knappen, prägnanten Dialoge, aus denen Humor und Klugheit hervorblitzen.
Lotte Bräuning arbeitet am liebsten analog, grundiert mit Aquarellfarben und zeichnet mit Buntstiften darüber. Das Gefühl des Autors, dass ihr Illustrationsstil gut zu seiner Geschichte passen könnte, hat sich bewahrheitet. Scheinbar mühelos schwenkt sie von Landschaftszeichnungen, inspiriert von ihren Kindheitserinnerungen an die österreichischen Alpen, zu den Innenräumen in Opas Haus und den beiden Hauptfiguren. Gekonnt setzt sie Schatten ein, stellt Blickkontakt zwischen den beiden her oder zeichnet stilsicher Bäume, Kühe und Weiden. Wenn im Text von einem Zeitraum von fünfzig Jahren die Rede ist, eröffnet sie den Betrachter:innen gleichzeitig den Raum und präsentiert einen Panoramablick über die imposante Berglandschaft. Besonders intensiv ist die letzte, textlose Doppelseite: Die Nacht legt sich über die Szene nach diesem unvergesslichen Tag. Insgesamt in Text und Bild beeindruckend und eine Bereicherung für Bibliotheken.
Rezension von Antje Ehmann.
Erschienen in: Buch&Maus 1/21, S. 27.
Beltz & Gelberg 2023
30 S.
Die Sehnsucht ist gross zwischen Oma und Enkelin. Ihre Zimmer sind eine halbe Weltreise voneinander entfernt, doch in beiden hängt ein gemeinsames Foto an der Wand, das ihre Liebe füreinander zeigt. Ein Paket mit geheimnisvollem Inhalt kann die Entfernung ein wenig überbrücken, und macht sich in vielen, abenteuerlichen Stationen auf den Weg zum Mädchen. Aus dessen Perspektive wird erzählt.
Es malt sich die Reise dank seiner reichen Fantasie in allen Einzelheiten aus: Das Paket legt die Strecke erst mit dem Postbotenfahrrad, dann auf einem riesigen Containerschiff über das Meer zurück, bis hin zu einem Flug mit der Propellermaschine, nachdem die Etappe durch den Dschungel gemeistert wurde.
Die in Basel wohnhafte Illustratorin Taltal Levi setzt das Wunderpaket der Oma farbig und mit Aufklebern und Bändern versehen effektvoll von den anderen Paketen ab, die allesamt auf dem Vorsatzpapier zu sehen sind. Ihre am Rechner erstellten, schwungvollen, doppelseitigen Illustrationen füllen die Seiten komplett und geben der Fantasie und dem Humor viel Raum. Zahlreiche Skizzen sowie das Experimentieren mit ganz verschiedenen Materialien spielen eine wichtige Rolle beim Erschaffen der ideenreichen Bildkompositionen. Matthias Kröner gelingt es dabei, im knappen Text das Wesentliche zu sagen, und er gestaltet auf diese Weise literarisch auch eigene Kindheitserinnerungen.
Ein wunderbarer Anreiz, selbst mal wieder einen Brief oder ein Paket und damit auch einige gute Gedanken zu verschicken.
Rezension von Antje Ehmann.
Erschienen in: Buch&Maus 2/2023, S. 28.
Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger.
Moritz 2020
112 S.
Schon vor der Lektüre macht die Ausstattung dieses Buch zu einem kleinen Juwel. Das Konzept ist so einfach wie wirkungsvoll: Zartgelb sind Einband und jede erste Seite der 18 Kapitel. Hinzu kommen schwarzweisse Vignetten und handgeschriebene Kapitelüberschriften, deren herausstechendes Merkmal Jutta Bauers weicher Kreidestrich ist.
Im Innern hält das bildschöne Kinderbuch für Zweitleser, was die Verpackung verspricht: eine warm erzählte Geschichte mit Ausstrahlung. Es geht um drei lustige Frauen, Enkelin Fanny mit Mutter und Grossmutter, die mal wieder einen Wettkampftag veranstalten, am laut Ich-Erzählerin Fanny «schönsten Ort der Welt», in Omas Haus. Als Hauptregel des selbst erfundenen Spiels gilt: Schummeln verboten! Einzige Ausnahme: Schiedsrichterin Oma, denn die kennt jeden Trick. Die fantasievollen Disziplinen sind Rückwärtsrennen, Wettschmecken, Klötzchenturm bauen, Balancieren, Elfmeterschiessen und Stillsein. Nachdem auch noch Dackel Alf gerettet werden musste, darf sich die Gewinnerin das Abendessen aussuchen. Fanny wählt gelb: Pizza mit Bananen.
Die Geschichte ist zum Kichern und das Spiel so unwiderstehlich geschildert, dass die Lektüre zum Veranstalten eigener Wettkämpfe anregen dürfte. Der Gefahr, dass das genussvolle Zusammenspiel zur heilen Familienidylle wird, entgeht die Autorin durch Authentizität. Zum Beispiel, wenn Fanny es noch schöner findet, wenn Mama gar nicht erst dabei ist, oder wenn Fanny von ihrer Oma «Schnuckipups oder Schlaubikeks», genannt wird. Das charakterisiert indirekt beide und zeigt, wie Erwachsene in den Ohren von Kindern manchmal kurios klingen – was wiederum erwachsenen Vorleser:innen die grösste Leselust bereiten dürfte.
Rezension von Ina Nefzer.
Erschienen in: Buch&Maus 3/20, S. 29.
Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger.
Hanser 2021
64 S.
Im Februar 2020 erschien der erste Band auf Deutsch, nach einem Jahr liegt bereits der vierte vor, in dem Familie von Stibitz «Auf Golddiamanten-Jagd» geht. Für ihre Kinderbuchserie haben Anders Sparring und Per Gustavsson eine Familie erfunden, die es liebt, Sachen zu klauen. Was dafür nötig ist, gehört zur Erziehung: «Wenn du es im Leben zu etwas bringen willst, musst du lügen können!»
Die beiden Schweden hielten es angesichts der zahllosen Kinderdetektiv:innen an der Zeit für kindliche Verbrecher:innen. Doch bei aller (diebischen) Freude fehlt auch Familie von Stibitz kein moralischer Kompass: Sohn Ture bekommt vom Lügen Bauchweh und mag nur Sachen, die erlaubt sind – im Gegensatz zu Papa Ede, Mama Fia, Tochter (Krimin-)Ella, Hund Schnüffler und Oma Klaudia. Die hat zusammen mit Schummel-Lisa den Golddiamanten gestohlen, der nun auf der Kommode des ahnungslosen Polizisten Paul Eisig schimmert.
Seit Erhard Dietls «Olchis» hat keine Verkehrte-Welt-Geschichte mehr ein solches Feuerwerk an Sprachspielereien und Komik gezündet. Da wird wild fabuliert und auf allen Ebenen mit Klischees gespielt. Die ganze Gangster-Familie trägt Sträflingsringelpullis und Augenmasken, selbst der Titel sieht aus wie ein Erpresserbrief. Der Text feiert sprechende Namen und nutzt ein literarisches Verbrecher-Vokabular, welches Friederike Buchinger bravourös übersetzt. Doch das alles funktioniert nur, weil die von Stibitz’ eine ganz normale, nette Familie sind: mit einem Papa, der Angst im Dunkeln hat, und einer Mama, die nett zu allem ist, was lebt.
Rezension von Ina Nefzer.
Erschienen in: Buch&Maus 1/21, S. 30.
Mit Bildern von Raffaela Schöbitz.
Jungbrunnen 2022
96 S.
«Wenn Papa und Mama sie einfach hier abstellen, müssen sie damit rechnen, dass sie in einem schwarzen Loch verschwindet», denkt Fanny, als sie am ersten Ferienmorgen im muffigen Haus des Grossvaters eine lange Treppe auftut, die tief hinab ins Erdreich führt. Hinter einer Türe trifft das Mädchen auf eine illustre Gesellschaft – eine fette Kröte, einen Schwan mit Lampe auf dem Kopf, ein Kartoffelmännchen namens Herr Döpfel, 29 geschwätzige, aber äusserst soziale Asseln und eine Staubmaus.
Sie alle haben sich im Kellerloch eingerichtet, weil sie sich dort sicherer fühlen. Aber jetzt ist gar nichts mehr gut, denn Lelalulah, die Tochter der Kröte, ist verschwunden. Ohne sie gibt es keine Geschichten mehr über das Leben an der freien Luft und die Gefahren, die dort lauern. Und nur über Geschichten, sind die Kellerlinge überzeugt, finden sie Lelalulah wieder. So schlüpft Fanny in die Rolle der vermissten Kröte. Bald schon können die Zuhörenden nicht mehr unterscheiden, ob ihre Erzählungen der Fantasie entspringen oder von ihnen selbst, dem Grossvater und dessen riesenhafter Lebensgefährtin handeln. Mit Geduld, Empathie und Geschichtenlist führt das Mädchen die lichtscheue Gruppe ans Tageslicht und lässt sie nicht nur Lelalulah finden, sondern auch ihr je eigenes Glück.
Die Zürcher Autorin Eva Roth erzählt in ihrem zweiten Kinderroman voller Wort- und Situationskomik von Freundschaft und Fürsorge, von Sehnsucht und Vorurteilen und von einem unerschrockenen und zupackenden Mädchen. Vor allem aber geht es in diesem Buch um die Macht von Geschichten. Zum Vorlesen und Selberlesen ab Ende Unterstufe.
Rezension von Christine Tresch.
Erschienen in: Buch&Maus 3/2022, S. 34.
Aus dem Serbischen von Marie Alpermann.
Tulipan 2023
224 S.
Endlich Ferien. Für Sofija die schönste Zeit des Jahres. Doch statt mit ihrem Bruder und seinen Freunden zelten zu fahren, hat sie sich von ihrer Mutter überreden lassen, ihre Oma auf die kroatische Insel Hvar zu begleiten, wo deren Schwester Lucija lebt. Für die beiden Frauen ist es das erste Wiedersehen nach über zwanzig Jahren.
«Sonne, nette Leute, verliebt sein … Ich habe in Stari Grad die schönsten Sommer meines Lebens verbracht», hat Sofijas Mutter geschwärmt. Von wegen! «Grillen, Hitze, zwei Omas und ich.» Sofija langweilt sich zu Tode. Weil sie sich das Zimmer mit ihrer laut schnarchenden Oma teilt, macht die 13-Jährige nachts ausserdem oft kein Auge zu. Es gibt aber auch schöne Momente: Wenn Oma, Nona Luce und Sofija sich während eines Stromausfalls Witze erzählen und lachen, bis ihnen die Tränen kommen zum Beispiel. Oder als Sofija sich in Sven verliebt.
23 Nächte verbringt Sofija, die im serbischen Belgrad zu Hause ist, im Heimatdorf ihrer Grossmutter. Und weil sie eine aufmerksame Beobachterin mit feinen Antennen ist, bekommt sie schnell mit, dass die Erwachsenen ihr bislang viel verheimlicht haben: nicht zuletzt einen grossen Teil ihrer Familie.
In Serbien ist Jasminka Petrović eine bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin, die vielfach ausgezeichnet wurde. Ihr erster auf Deutsch vorliegender Jugendroman erzählt eine vielschichtige Coming-of-Age-Geschichte, in der es unterschwellig auch um den Balkankrieg Anfang der 1990er-Jahre und dessen Folgen in den Familien bis in die Jetztzeit hinein geht. Der Roman ist warmherzig, mit feiner Ironie und grosser Sympathie für die Figuren erzählt und toll übersetzt.
Rezension von Andrea Duphorn.
Erschienen in: Buch&Maus 1/2023, S. 33.
Hanser 2023
160 S.
Demente Grosseltern sind in Kinderromanen keine Seltenheit, genau so wenig wie Aufarbeitungen von Kriegsvergangenheiten. Zoran Drvenkar verbindet beides in einer erzählerisch ausgefeilten Geschichte, die als Anti-Kriegs-Pamphlet berührt.
Der elfjährige Kai ist Feuer und Flamme für all die Heldengeschichten, die ihm sein Grossvater aus dem Krieg erzählt hat: Wie er mit blossen Händen gegen Feinde gekämpft und echte Kameradschaft erlebt hat, wie er durch einen Armbrustbolzen sein Auge verloren und mit vielen Orden dekoriert wurde. Kurz bevor Opa ins Heim gebracht werden soll, möchte Kai all dies auch erleben und reist mit ihm in die Erinnerungen.
Wir folgen Opa und Enkel in die Schützengräben und Gefangenenlager eines (nicht historisch festlegbaren) Krieges. Und nichts ist so, wie der begeisterte Kai es sich ausgemalt hat: Menschen sterben wie die Fliegen, Hunger und Kälte laugen aus, sie darben Jahre als Gefangene und Eingekesselte. Die Erzählerstimme, die das Ganze überblickt, warnt von Vornherein vor all den schlimmen Momenten, die auf Kai warten. Und der Opa tut sein Bestes, um seinen Enkel vor dem Schrecken zu bewahren, den er jahrelang gut in seinem Gedächtnis versteckt hatte.
Drvenkar lässt die Erzählung von seinen Figuren gestalten, die Geschichte findet im Raum zwischen Realität, Imagination und Erinnerung statt, kommentiert und eingeordnet von einem allwissenden Erzähler. Diese Führung braucht es auch, ist die erzählerische Anlage doch anspruchsvoll für junge Leser:innen. Wer sich traut, wird mit einer eindrücklichen literarischen Auseinandersetzung über Heldentum und Kriegsrealität belohnt.
Rezension von Elisabeth Eggenberger.
Erschienen in: Buch&Maus 1/2023, S. 31.