Was passiert, wenn wir uns Zeit nehmen, um mit einem Kind eine Geschichte zu lesen? Mehr als man auf den ersten Blick vermuten würde.
Durch das Vorlesen und das gemeinsame Eintauchen in Geschichten fördern wir nicht nur die sprachliche und kognitive Entwicklung des Kindes, sondern stärken auch die Beziehung zueinander und wir können wertvolle Grundlagen für das mentale Wohlbefinden schaffen.
Für das Schwerpunktthema zum Vorlesetag 2025 arbeitet das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM mit dem Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz zusammen. Das Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz ist ein Zusammenschluss von Organisationen, Institutionen und Unternehmen, die sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz engagieren.
Im Moment, in dem wir ein Buch aufschlagen, wird ein Raum ausserhalb des hektischen Alltags geschaffen. Diese bewusste Pause, die körperliche Nähe beim Vorlesen und der geteilte Fokus auf Bilder, Figuren und eine Geschichte im Hier und Jetzt legen die Basis, um über eigene Erlebnisse und Gefühle ins Gespräch zu kommen. Finden Kinder ihre Themen in Geschichten gespiegelt, und können sie mit Figuren mitfühlen und Konflikte miterleben, kann ihnen das helfen, eigene Probleme und Sorgen zu verarbeiten und sich als selbstwirksam zu erleben.
Besonders wichtig ist aber auch das gemeinsame Vergnügen, und die lustvollen Momente, die wir beim Geschichtenlesen erleben, die unsere Fantasie anregen oder auch beruhigend wirken und Halt geben können.
lic. phil. Sabine Brunner ist Psychologin, Psychotherapeutin und Supervisorin am Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI).
Für das Schwerpunktthema 2025 haben wir Sabine Brunner gefragt, wie das Vorlesen stärken kann und wie Geschichten dazu beitragen können, Kindern bei ihrer emotionalen Entwicklung positiv zu unterstützen.
«Vorlesen liefert immer wieder eine wunderbare Gelegenheit, Nähe und emotionale Zuwendung herzustellen. Das Kind und die vorlesende Person sitzen nahe beieinander, während sie sich gemeinsam auf eine imaginäre Reise begeben. Die erzählten Geschichten erzeugen eine Art ‹nährende Glocke›. Sie bündeln die Aufmerksamkeit, schirmen ab, und lenken auf wohltuende Weise weg von eventuellen realen Problemen.
Gleichzeitig erweitert der Inhalt der Geschichten den Horizont und regt zum Nachdenken an. Weshalb erfolgt die Geschichte auf diese Weise? Kenne ich das, was berichtet wird? Hätte ich gleich gehandelt oder anders? Solche und andere Fragen können diskutiert werden. Es lassen sich nun Erklärungen für Ereignisse finden, Emotionen erhalten einen Namen.
Und so können auch Gefühle, die das Kind bisher unerkannt in sich verspürte und Erlebnisse, über die es bisher allenfalls bruchstückhaft berichten konnte, eine Erzählweise finden – alles Prozesse zur Unterstützung der psychischen Gesundheit. Dabei ist es sehr individuell, durch welche Geschichten diese Prozesse tatsächlich angeregt werden. Letztlich geht es wohl vor allem darum, dass das Kind sich an einem Punkt der Geschichte wiederfindet.»
Wir haben für Sie eine kleine Auswahl von Büchern zusammengestellt, die thematisch zum Fokus 2025 passen und sich zum Vorlesen eignen. Die Altersangaben sind dabei nur eine Orientierungshilfe.
Hanser 2021
64 S.
Auf der Spitze des Buchstabens im Titel dieses besonderen Nachschlagewerkes drehen sich die beiden Glücklichen im Karussell. Maus und Eichhörnchen verkörpern das Glück aufs Feinste. Doch es gibt noch mehr Gefühle – geliebte und weniger geliebte –, und denen widmet sich die versierte Illustratorin auf je einer Doppelseite. Insgesamt 30 Gefühle stellt sie dar und vermittelt die Botschaft: Du darfst auch wütend, beleidigt, verlegen oder traurig sein. Alle Gefühle gehören dazu, und keines soll übergangen oder unterdrückt werden. Zahlreiche Schauplätze werden mit wenigen typischen Details versehen, und viele eindrückliche Szenen bleiben im Kopf: zwei Füchse, die – die Pfoten der Hinterbeine aneinander – sich miteinander verbunden fühlen, der Hase, der sich ausgeschlossen fühlt, während die anderen zusammen Spass auf dem Schlitten haben, der Elefant, der sich nicht für eine Eissorte entscheiden kann, während Pinguin, Bär und Erdmännchen ungeduldig in der Schlange stehen.
Das sind Gefühle, die Kathrin Schärer nur allzu gut kennt. Kinder identifizieren sich ihrer Erfahrung nach leichter mit Tierfiguren, und sie selbst fühlt sich beim Illustrieren in die Tiere ein – manchmal mental, manchmal auch tatsächlich, indem sie die dem jeweiligen Gefühl entsprechende Körperhaltung einnimmt oder die Mimik der Tiere nachahmt. Fellstrukturen, Haut- und Schuppenvariationen, gefletschte Zähne oder gesträubte Haare – es gibt viele Möglichkeiten, Emotionen darzustellen. Ideal für alle und über die Generationen hinweg, um miteinander zum elementaren Thema Gefühle ins Gespräch zu kommen, in der Primarschule, im Kindergarten oder in der Kita genauso wie in der Familie.
Rezension von Antje Ehmann
Buch&Maus 02/21, S. 26
ars Edition 2023
36 S.
Nashorn, Tiger, Schaf, Pinguin und Waschbär spielen miteinander, da kommt Frosch: «Hee! Guck mal!», ruft er und springt auf einem Bein in die Höhe. Sofort wollen alle zeigen, was sie können – eine typische Situation aus dem Kinderalltag. Der Pinguin balanciert, das Schaf rollt den Hang hinunter. Im ersten Moment denkt man an den Bilderbuchklassiker «Mutig, mutig» von Lorenz Pauli und Kathrin Schärer, wo Tiere miteinander wetteifern, wer am mutigsten ist. Hier aber gehts weniger um Wettkampf, sondern darum, wie man sich gegenseitig zu neuen Spässen anstachelt. Klappt was nicht, helfen und trösten die anderen. Da schaut man mit Vergnügen zu, erst recht, weil manche Tiere Dinge tun, die man ihnen nicht zutraut: Ausgerechnet das Nashorn tanzt, und das Schaf hilft dem Waschbären vom Baum herunter.
Zusätzliche Dynamik entsteht, weil man das Buch ab und zu ins Hochformat drehen muss, denn im Querformat würde die Handlung die Buchseiten sprengen: Einen so langen Weg rollt das Schaf den Hügel runter, und so hoch klettert der Waschbär. Plötzlich merken die Tiere, dass ihnen jemand zuschaut und treten mit dem betrachtenden Kind in Kontakt.
Die Schweizer Illustratorin Andrea Peter hat Tiere gewählt, die kleine Kinder anhand ihrer Formen und Grössen gut unterscheiden können. Trotzdem wirken sie nicht schablonenhaft, sondern lebhaft und sympathisch in ihrer Gestik und Mimik. Die Umgebung ist reduziert, der Schwerpunkt liegt auf dem Treiben der Tiere. Wer will (und das tun Kinder bestimmt), verfolgt die subtil eingeflochtene Nebenhandlung: Insekten umschwirren die Tiere und nerven sie – dem Frosch kommen sie jedoch gelegen.
Rezension von Andrea Lüthi
Erschienen in: Buch&Maus 2/23, S. 26
NordSüd 2024
40 S.
Wenn Grossvater auf den Markt will, muss er den Weg über den «Berg des Grauens» nehmen: Es heisst, wer dort stürze, habe nur noch drei Jahre zu leben. Und genau das passiert eines Tages: Grossvater stolpert und fällt.
In ihrem Bilderbuchdebüt erzählt die in Seoul geborene Künstlerin Dayeon Auh die Geschichte eines traditionellen koreanischen Volksmärchens nach: Im festen Glauben an den nahenden Tod fühlt sich der ehemals so lebensfrohe Grossvater immer schlechter. Die Ärztin, die er konsultiert, kann ihm nicht helfen: «Eigentlich scheinen Sie mir vollkommen gesund zu sein …» Erst als seine Enkelin ihn kurz vor Ablauf der Drei-Jahres-Frist besucht und die alte Legende neu deutet, findet der alte Mann seine Lebensfreude wieder. Aus dem «Berg des Grauens» wird der «Berg des langen und glücklichen Lebens». Zwei, drei Sätze Text pro Doppelseite, mehr braucht es nicht, denn Dayeon Auhs kraftvolle, farbintensive Bilder tragen die Geschichte. Dabei schöpft die junge Künstlerin, was Techniken und Material betrifft, aus dem Vollen: Mit satten Wasserfarben, Pastell- und Wachsmalkreide, Bunt- und Bleistiften schafft sie Bilder einer anderen Welt. Pflanzen, die an riesige Pilze, Springbrunnen oder Luftballons erinnern, fantasievolle Tiere und Landschaften. Ein wahres Feuerwerk der Farben und Formen.
«Dayeon wünscht sich, dass ihre Bilder in Erinnerung bleiben, Freude und Inspiration in der Welt verbreiten», heisst es im Vorsatz. Auf «Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben» trifft das hundertprozentig zu: ein farbenfrohes, Mut und froh machendes Bilderbuch, in dem sich von Mal zu Mal neue Details entdecken lassen.
Rezension von Andrea Duphorn
Erschienen in: Buch&Maus 3/24, S. 30
Thienemann 2022
32 S.
Ein Brief, Umschlag, Stifte und Briefmarke auf dem Schmutztitel stimmen die Betrachtenden auf die Geschichte ein. Was wird wohl «schiefgehen»? Die Redewendung im Titel lädt zum Austausch ein. In der ersten Szene lässt ein Brief Ente und Maus spontan aus ihrem gemütlichen Heim aufbrechen. Biber hat sie in seinen neuen Damm eingeladen. Der Weg durch die Natur bestimmt die Zweifel und Ängste der sehr unsicheren und pessimistischen Ente und damit die Handlung. Hunger, Durst und Schwächeanfälle gilt es zu meistern.
Daniel Fehr arbeitet mit sehr unterschiedlichen Illustrator:innen zusammen. Das macht sein Werk vielseitig. Seinem Text fügt er Regieanweisungen hinzu und vertraut doch ganz auf die Arbeit des oder der anderen. Diesmal steuert der Luzerner Künstler Raphaël Kolly mit der Figurenzeichnung, der grosszügigen Landschaft und der Farbgebung seine ganz eigene Note bei. Schön, mit welcher Ruhe und Intensität auf den querformatigen Doppelseiten der Raum entsteht. Und schon auf dem Cover wird klar, wie Ente alles gegen den Strich geht und wie die Brücke sie ängstigt.
Zurück bleibt der Eindruck, dass die negativen Gedanken von Ente dank der Beharrlichkeit von Maus keine Wirkung gezeigt haben. Trotz allen Ängsten haben die beiden Freunde den Ausflug gemacht. Das ist kein schlechtes Rezept für ängstliche Wesen, die manchmal aus ihrem Gedankenkarussell nicht herausfinden. So gibt es zuletzt einen glücklichen Moment: die drei Freunde an einem Tisch – eine Szene ganz ohne Text. Für Kinder mit ähnlichen Sorgen bietet dieses Bilderbuch eine Möglichkeit, ins Reden zu kommen. Für Spass und Leichtigkeit sorgt eine Krähe, die man auf jeder Seite entdecken kann.
Rezension von Antje Ehmann.
Erschienen in: Buch&Maus 2/22, S. 26
Beltz & Gelberg 2022
60 S.
Ob es etwas damit zu tun hat, dass Uma vier Geschwister hat, hat sie vor lauter Familientrubel manchmal das Gefühl, als werde sie übersehen? Wer weiss. Sicher ist, dass das Mädchen ab und zu unsichtbar wird. Schon etwas mysteriös. Doch sie beschliesst, sich nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, sondern die magische Fähigkeit für sich zu nutzen.
Autorin Lena Hach bezieht die Leser:innen von Anfang an mit ein. Sie dürfen mitsuchen und mitraten. So entsteht ein Dialog, der den ohnehin schon kurzweiligen Text zusätzlich auflockert. Umas Unsichtbarkeitstests, die sie mit ihrem Freund Fritz ausprobiert, sorgen für Humor, genau wie die lustigen Wortschöpfungen.
Illustratorin Marine Ludin versteht es, mit zarten Farbtönen, originellen Bildideen und viel Lebendigkeit die Szenen mit Uma, Fritz und Umas Familie schwungvoll darzustellen. Schon das Cover macht neugierig: Hund und Junge staunen, wie bald auch die lesenden Kinder. Was ist das nur für ein seltsamer, weisser Nebel? Die eigentlich ja unsichtbare Uma zeichnet Ludin im Buch hell und nahezu konturlos, mit dem erstaunlichen Effekt, dass man tatsächlich zweimal hinschauen muss, bevor man das Mädchen vor der riesigen Wohnzimmerpflanze oder heimlich fernsehschauend hinter dem riesigen Sofa entdeckt.
Mitten auf dem Tisch singend, werden die «O» in Kartoffel gleich viermal geschrieben und verwandeln sich scheinbar selbst in solche. Oder beim Niesen sind die Buchstaben «Hatschi» wuchtig gross auf der ganzen Seite verteilt zu lesen. Eine rundum gelungene Verbindung von Text, Bild und Typografie und perfekt als Schullektüre ab der zweiten Klasse geeignet.
Rezension von Antje Ehmann
Erschienen in: Buch&Maus 1/23, S. 30
Beltz&Gelberg 2024
144 S.
Als Adas Erzieherin wissen will, wie ihr Tag gewesen sei, bleibt die Sechsjährige stumm: «Alle Worte stecken ganz weit unten im Bauch. Ziemlich viele Worte sind das, und zusammen ergeben sie einen kratzigen Berg aus Kurven und Zacken und Kanten, der sich nicht in Adas Mund traut.» Denn Adas beste Freundin und der doofe Linus haben sich über Ada lustig gemacht.
Über eigene Gefühle sprechen ist schwer, doch mitzubekommen, dass es anderen ähnlich geht, hilft: Das ist sicher auch eine der Überlegungen hinter «Ameisen in Adas Bauch». Der Untertitel «Ein Kinderbuch über leise und laute Gefühle» macht deutlich, dass ein Sachthema und die pädagogische Verwertbarkeit mitgedacht sind: ein Buch als Sprungbrett, um über eigene Gefühle zu sprechen. Der episodenhafte Aufbau hilft dabei. Einzelne Kapitel, die – ohne es zu benennen – je ein Gefühl wie Schadenfreude, Ekel oder Stolz thematisieren, lassen sich gut auch einzeln lesen. Von ähnlichen Projekten hebt das Buch ab, dass die Kapitel zusammengehalten werden durch die übergeordnete Geschichte, wie Ada sich nicht traut, im Freibad den Kopf unterzutauchen, bis sie es am Ende, zum für sie richtigen Zeitpunkt, doch tut. Und mehr noch wird es zusammengehalten von diesem kleinen Persönchen Ada, das Illustrator Philip Waechter zu munterem Leben erweckt: Ada, die elf Zentimeter zu klein ist für ihr Alter, die sich auf die Schule freut und trotzdem Angst davor hat und deren Beine spaghettilang wachsen, wenn Mama sie «meine Grosse» nennt. Stefanie Höfler zeigt dieses Mädchen in seiner ganzen inneren Vielfalt und macht bewusst, dass der Umgang mit Gefühlen beim Kind stets eine Gelegenheit zum Wachsen bietet.
Rezension von Elisabeth Eggenberger
Erschienen in: Buch&Maus 1/24, S. 29
Kunstanstifter 2024
36 S.
Das Fell des Hundes ist struppig: In einer wilden Schraffur in alle Richtungen, mit roten, grünen und blauen Strichen ins Braun gemischt, hat die Basler Illustratorin Sabine Rufener es mit Buntstift gemalt. Dieses Fell zieht den Blick auf sich und darf in Vergrösserung auch Vor- und Nachsatz ihres Bilderbuches «Emma und der traurige Hund» zieren.
Die doppelseitenfüllenden Bilder im Buch konzentrieren sich auf die zwei Hauptfiguren: auf Emma, ein gewitztes, kurzhaariges Mädchen mit roter Brille, und den Hund. Dieser ist alt – und müde. Er ist des Lebens überdrüssig geworden. Tag für Tag versucht Emma, ihm einen Grund zu liefern, warum das Leben sich trotzdem lohnt. Der für ein Bilderbuch ungewöhnlich lange Text, der sich an ein schon etwas älteres Publikum richtet, ist nicht nur in seiner Gesamtheit eine philosophische Erkundung von Lebenssinn und Glück, er enthält auch immer wieder prägnant gefasste Gedanken: «Nicht mehr geliebt zu werden, ist viel schlimmer, als nie geliebt worden zu sein.» Emma erinnert den Hund daran, dass es Sonnenschein und Erdbeereis gibt, sie versucht, ihm mit selbst verfassten Briefen und Gedichten von der Schönheit des Lebens zu erzählen. Er lässt sich nicht überzeugen.
Graubraune Transparentfolie bildet den Hintergrund, in dem alles leicht verschwimmt, die Figuren sind mit deutlichen Farbstiftstrichen darauf gezeichnet. Text und Bild gehen ineinander über: Denn Emma und der Hund stellen fest, dass das Glück am Ende auch von der eigenen Perspektive abhängt. Und so setzt Emma dem Hund am Ende ihre Brille auf. Unscharf mag er die Welt nämlich ganz gerne.
Rezension von Elisabeth Eggenberger
Erschienen in: Buch&Maus 3/24, S. 29
Aus dem Englischen von Meritxell Piel
WooW Books 2024
432 S.
Jess Redmans «Feuer in dir» entführt in ein Städtchen mit dem ungewöhnlichen Namen Vierpunkt. Der Umzug hierhin hat der 12-jährigen Alma nicht gutgetan: Sie wird von Panikattacken erschüttert. Diese «Stürme» geben ihr das Gefühl, dass ihr «Licht», ihre «Alma-heit», erlischt.
Autorin Jess Redman, die auch Therapeutin ist, nutzt hier eine so schlichte wie wirkungsvolle Metapher für Angststörungen und ihre Folgen. Denn Alma traut sich kaum mehr etwas zu und bleibt in der Schule für sich. Um ihre etwas zu hilfsbereiten Eltern nicht zu enttäuschen, verstummt sie auch zu Hause zunehmend. Almas Reise zur Besserung beginnt, als sie eine Einladung zum Astronomieclub der Schule findet und spürt, wie sich in ihr ein Funke Hoffnung regt. Kurz darauf wagt sie sich in den Fünften Punkt, den geheimnisvollen, turmbesetzten Trödelladen genau in der Stadtmitte. Der Besitzer leiht ihr ein «Quintoskop», ein magisches Teleskop, mit dem Alma beobachtet, wie ein Stern (in einer Art menschlichen Gestalt) vom Himmel fällt. Alma ist dazu berufen, mit drei neuen Freund:innen, diesen Sternling zu retten und zurückzuschicken, was einige abenteuerliche Aktionen erfordert. Die vier Kinder sind dabei je mit einem Element verknüpft und können zusammen die Quintessenz bilden.
Der etwas eigentümliche, aber stimmige Weltentwurf wird lose mit dem sagenhaften Paracelsus verbunden, denn als dieser entpuppt sich der Ladenbesitzer. Die eher spirituelle Seite des Romans wird durch astronomisches Wissen ausbalanciert. Eine sorgfältige Psychologisierung und die gefühlvolle Erzählweise sorgen für eine stimmige Freundschafts- und Mutmachgeschichte für geübte Leser:innen ab Ende Primarschule.
Rezension von Aleta-Amirée von Holzen
Erschienen in: Buch&Maus 2/24, S. 33
mixtvision 2024
224 S.
«Ich will keine Rücksicht. Ich will einfach nur normal sein», sagt der 13¾-jährige Leon Hertz, dem es an manchen Tagen richtig elend geht. An solchen «Depri»- Tagen verzieht er sich auf dem Pausenhof hinter die Turnhalle, um heimlich zu weinen. Leon hat in der Schule kaum Freunde und lebt allein mit seiner Mutter, zu seinem Vater hat er keinen Kontakt mehr. Für den Ethikunterricht sollen die Schüler:innen ein Referat zum Thema Tod und Trauer halten. Leon entscheidet sich, über das Holzkreuz an der Ampel zu sprechen, an dem er jeden Tag auf dem Schulweg vorbeikommt. Die Traurigkeit, die dieser Gedenkort ausstrahlt, geht ihm extrem nahe. Liegt es am jungen Alter des Verstorbenen? Oder daran, dass das Unfalldatum Leons Geburtstag ist?
Auf der Suche nach Antworten erhält Leon Unterstützung von Rouven, der in dieselbe Klasse geht. Sie begegnen dabei Hinterbliebenen des Unfallopfers und sehen, was Trauer mit Menschen macht und wie mit Verlust und Erinnerung umgegangen wird. Die beiden Aussenseiter freunden sich an, und Leon lernt, was es heisst, ein guter Freund zu sein, gerade wenn es jemandem psychisch schlecht geht.
Volker Surmanns erster Jugendroman ist primär ein Roman über die Freundschaft zwischen zwei Jungen, die voller Gefühle und mit offenem Herzen durch die Welt gehen. Wichtige Themen wie psychische Gesundheit, Ängste, Sexualität, Männlichkeitsideale und Mobbing werden auf einfühlsame und zugleich sehr humorvolle Weise behandelt. Das Buch zeigt aus Leons sensibler Perspektive, wie Traurigkeit, Ängste, Verlust, Freude, Fürsorge und Liebe im Leben miteinander existieren.
Rezension von Isabelle Schmid
Erschienen in: Buch&Maus 1/24, S. 33